Der Naturalismus ist eine Literarische Epoche, die sich ca. zwischen 1880 und 1900 entwickelte. Naturalismus entstand als Reaktion auf die tiefgreifenden Veränderungen durch Industrialisierung, Urbanisierung und sozialen Ungleichheiten. In dieser Zeit lebten viele Menschen in Armut, die Gesellschaft war geprägt von sozialem Elend, Krankheiten, Alkoholismus, Prostitution, Kindersterblichkeit und Ungerechtigkeit. Doch gleichzeitig gab es viele Entdeckungen im Bereich der Naturwissenschaft und Technik und Medizin.
Ein Zentrales Ziel des Naturalismus war es, die Wirklichkeit möglichst genau und wissenschaftlich fundierend abzubilden. Der Mensch wurde als Produkt seiner Umwelt und seiner Vererbung verstanden. Es ging darum die Ursachen und Wirkung in menschlichen Verhalten - möglichst nüchtern - sichtbar zu machen.
Die Haltung wurde stark vom Positivismus beeinflusst. Eine Denkrichtung, die sich schon Jahrzenten vor dem Naturalismus entwickelte. Der Positivismus ging davon aus, dass nur das faktisch Gegebene, Sinnlich-Wahrnehmbare und wissenschaftlich Überprüfbare als Erkenntnisquelle zulässig ist. Alles, was sich nicht beobachten oder messen lässt – etwa religiöse Glaube oder moralische Prinzipien –, wurde als nicht wissenschaftlich und bedeutungslos angeschaut. Die Erkenntnis oder das Wissen dufte nur von positiven- also tatsächlichen, sinnlich wahrnehmbaren und überprüfbaren - Befunden beruhen.
Wir haben im Unterricht «Bahnwärter Thiel» von Gerhart Hauptmann behandelt. Dabei wurde es deutlich, wie der Autor auf die Objektivität setzt, auch wenn die beschriebenen Inhalte schockierend oder unbequem waren. Es wird also deutlich, dass der Naturalismus diese objektive Denkweise auch auf die Literatur übertrug. Hauptmann verzichtete auf Kommentare oder emotionale Sprache. Stattdessen beschreib er Thiels Alltag möglichst genau. Die Hauptfigur war kein Held, sondern ein Mensch mit schwächen, der zwischen Pflicht, Schuldgefühlen und unterdrückter Wut hin- und hergerissen wurde. Die Katastrophe, die sich im Verlauf der Geschichte anbahnte, wirkte nicht wie ein dramatischer Zufall, sondern wie eine logische Folge seiner Lebensumstände.
Diese literarische Haltung, die ehrliche, ungefilterte Beobachtung der Realität, steht im Schwerpunkt meiner Auseinandersetzung mit dem Thema. Im zweiten Teil möchte ich untersuchen, inwiefern moderne Technik heute eine ähnliche Rolle übernimmt wie damals der Naturalismus: nämlich die Wirklichkeit präzise und Objektiv abzubilden.
Der Naturalismus strebte danach, die Realität möglichst objektiv und präzise darzustellen. Doch heute, im Zeitalter von Digitalisierung, Big Data und Künstliche Intelligenz, stellt sich die Frage: Haben die Maschinen diese Aufgabe nicht längst übernommen? Haben die Technologien den «naturalistischen Blick» weiterentwickelt oder sogar ersetzt?
Auch heute gilt häufig, dass nur das Messbare, Sichtbare, Nachprüfbare als „wirklich“ oder „wahr“ angesehen wird. Wie im Positivismus basiert unser Verständnis von Wissen weitgehend auf Daten, Belegen und überprüfbaren Fakten. In Bereichen wie der Medizin werden zunehmend technische Verfahren eingesetzt, um den Menschen zu „analysieren. Gerhart Hauptmann beschrieb das Verhalten von Thiel mit psychologischer, sozialer und körperlicher Genauigkeit. Heute würde ein KI-System dieselben Daten (Gesichtsausdruck, Herzfrequenz, Stressverhalten, Umfeld) sammeln und automatisch ein Profil der Person erstellen. Beide Systeme, Naturalismus und Technik, versuchen den Menschen objektiv zu erfassen, ohne Wertung, ohne Emotion. Technische Systeme gelten als «objektiv», weil sie auf Daten und Algorithmen basieren, Doch diese Algorithmen werden von Menschen programmiert, deshalb können unbewusste Vorurteile oder Verzerrungen in die Entscheidungen einfliessen. So kann eine KI zur Hautkrebserkennung schlechte Ergebnisse liefern, wenn sie nur mit Bildern von heller Haut trainiert wurde.
Auch Algorithmen können also nicht neutral sein – nicht, weil sie Meinungen haben, sondern weil sie mit einseitigen Daten oder unreflektierten Annahmen gefüttert wurden. Technische Systeme wirken neutral, obwohl sie es nicht immer sind – und das macht sie so mächtig und gleichzeitig problematisch.
In diesem Sinne ersetzt Technik den „naturalistischen Blick“ nicht, sondern führt ihn auf eine neue, aber kritische Ebene weiter. Es bleibt offen, ob diese neue Form der Objektivität uns wirklich hilft, die Welt zu verstehen.